Syrien ein Jahr nach Assads Sturz: Aufbau von Sicherheit und Übergangsjustiz vor Gesprächen über Rückkehr
Syrien: Aufbau von Sicherheit und Übergangsjustiz vor Gesprächen über Rückkehr
Berlin. 6.11.2025 Knapp ein Jahr nach dem Sturz des Assad-Regimes am 8. Dezember 2025 ist deutlich: Die Verbrechen des syrischen Regimes, seiner Komplizen, des sogenannten Islamischen Staates und anderer Kriegsparteien haben tiefe Risse in der syrischen Gemeinschaft hinterlassen. Nicht nur Gebäude und Infrastruktur müssen wiederaufgebaut werden: traumatisierte Menschen brauchen Unterstützung, erlittenes Unrecht bedarf Wiedergutmachung.
Zum Aufbau einer stabilen Gesellschaft braucht Syrien eine funktionierende Übergangsjustiz, die Menschenrechtsverletzungen aufarbeitet, die Gerechtigkeit und Versöhnung befördert. Nationale Stellen für eine Übergangsjustiz wurden zwar bereits eingerichtet, diese sind jedoch sehr fragil und nicht unabhängig von der neuen Regierung. Obwohl nun viele Exil- oder neu gegründete zivilgesellschaftliche Organisationen in der Versorgung der Bevölkerung und dem Neuaufbau von Staat und Gesellschaft aktiv sind, geht es mit der dringend notwendigen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nur langsam voran.
Jiyans Menschenrechtsexperte Dr. Bojan Gavrilovic erklärt: „Auch seit dem Sturz von Assad kam es in diesem Jahr immer wieder zu Gewalttaten gegen Minderheiten, die zu Pogromen und Massakern an Tausenden führten. Wenn Minderheiten um ihr Leben fürchten müssen, ist der Zeitpunkt, Übergangsjustiz, Versöhnung und Friedensförderung einzuleiten, noch nicht erreicht. Erst wenn alle Menschen nachhaltig geschützt sind, können die Voraussetzungen für eine funktionierende Übergangsjustiz zum stabilen Aufbau des Landes erreicht werden. Dies ist aktuell definitiv noch nicht der Fall. Vor diesem Hintergrund ist es zum jetzigen Zeitpunkt völlig unangebracht, überhaupt über eine Rückkehr der Geflüchteten nach Syrien zu sprechen.“
Eine sinnvolle Voraussetzung hin zu einer Übergangsjustiz wäre, laut Gavrilovic, die Einsetzung einer UNO-Friedensmission vor Ort. Diese würde nicht nur gefährdeten Minderheiten ein gewisses Maß an Sicherheit bieten, sondern auch die Rechtsstaatlichkeit stärken, die Menschenrechte fördern und den politischen Prozess unterstützen. Im internationalen Umgang mit Syrien sollte dieser Mission höchste Priorität zukommen. Denn nur wenn die Zivilbevölkerung dauerhaft geschützt ist und zur Ruhe kommen kann, können wirksame Maßnahmen zur Aufarbeitung der Verbrechen nicht nur des IS und des Assad-Regimes, sondern aller Täter starten.
Die internationale Gemeinschaft kann und sollte den Rahmen zur Verhandlung internationaler Verbrechen im Land schaffen. Eben dies wurde zum Beispiel im Irak verfehlt. Die UN sollte hierzu vom syrischen Staat klare Verpflichtungen und die Schaffung eines rechtlichen Rahmens einfordern. Die nächsten Schritte wären dann Reparationen für Überlebende und Bemühungen zum Auffinden vermisster Personen.
Der Bedarf nach Vergangenheitsbewältigung und psychosozialer Unterstützung für die Überlebenden des grausamen Bürgerkriegs ist überall in Syrien hoch. Seit 2018 ist Jiyan mit einem eigenen Behandlungszentrum in Qamischli/Nordostsyrien in der Traumaarbeit mit Überlebenden von Krieg, Terror und Folter engagiert. Dabei greift sie auf ihre zwanzigjährige Erfahrung im Irak zurück, auch in Bezug auf Ausbildung des lokalen Teams und Qualitätssicherung.
Die Jiyan Stiftung für Menschenrechte e.V. unterstützt Überlebende von Menschenrechtsverletzungen, verteidigt die Grundfreiheiten und fördert demokratische Werte in Kurdistan, im Irak und in Syrien. Wir streben eine demokratische Gesellschaft an, in der die Würde des Menschen geschützt wird und in der Erwachsene und Kinder das Recht auf psychische und körperliche Unversehrtheit und Freiheit haben.